"Er wird es." Mit diesen Worten stellte der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz den zukünftigen Bundesgesundheitsminister, Karl Lauterbach, vor. Dieser genießt als ausgewiesener Gesundheitsexperte mit einem Hang zu einer deutlichen, faktenbasierten Meinungsäußerung nicht erst seit Pandemiebeginn großes Ansehen in der Öffentlichkeit. Seine Ernennung hat bei großen Teilen der Bevölkerung und insbesondere bei Medizinerinnen und Medizinern für Applaus gesorgt.
Jetzt wird sich Karl Lauterbach in seiner neuen Rolle als oberster Verantwortlicher gesundheitspolitisch beweisen müssen. Neben den Herausforderungen, die der Winter mit einer vierten Pandemiewelle inklusive neuer Virusvariante mit sich bringt, steht Lauterbach zudem vor dem umfangreichen digitalen Vermächtnis seines Vorgängers. Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte im Eiltempo viele Projekte für die Digitalisierung im Gesundheitswesen angestoßen und damit Handlungsdruck bei Arztpraxen, Krankenhäusern, Herstellern sowie Patientinnen und Patienten aufgebaut.
Der neue Bundesgesundheitsminister hat nun die Möglichkeit, die zum Teil disruptiven Digitalisierungsansätze in eine sinnvolle, moderne Versorgung zu überführen. Innehalten, Baustellen sichten, Praxistauglichkeit checken, einen realistischen Fahrplan erstellen und faktenbasiert kommunizieren – das sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Start. Karl Lauterbach muss vor allem drei große Herausforderungen angehen:
Erstens: Damit die Anwendungen der Telematikinfrastruktur endlich den angedachten Nutzen entfalten können, muss die Digitalisierung aus dem Blickwinkel der Versorgung betrachtet und umgesetzt werden. Höchste Priorität hat es daher, Ärztinnen und Ärzten, medizinischem Fachpersonal und vor allem Versicherten den Nutzen digitaler Lösungen aufzuzeigen, ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen und gleichzeitig ihre digitalen Kompetenzen zu stärken. Nur so wird bei Anwenderinnen und Anwendern die Akzeptanz aufgebaut, die für eine flächendeckende Nutzung erforderlich ist. Derzeit finden sowohl der elektronische Notfalldatensatz als auch die elektronische Patientenakte ausschließlich als Orchideen-Anwendungen in der Gesundheitsversorgung statt.
Zweitens: Die Telematikinfrastruktur (TI) ist ein sicheres, aber hochkomplexes IT-Netz, in dem zahlreiche Dienste interagieren. Daher müssen die Spielregeln ohne Interpretationsspielraum formuliert werden; es muss für alle TI-Anwendungen klar und möglichst einheitlich definiert sein, wer die Verantwortung trägt, technische Spezifikationen festlegt, Auditierungen und Zertifizierung durchführt, IT-Lösungen entwickelt und Beratungsleistungen erbringt. Nur wenn die Rollenzuweisungen eindeutig geregelt sind, können die Verantwortlichen ihre Aufgaben reibungslos ausführen – und notfalls auch in die Pflicht genommen werden. Wer berät Versicherte etwa zur Verwendung des elektronischen Rezepts, dessen existierenden Varianten und unterstützt bei der App-Benutzung? Die gematik hat bereits die Grundlage für die TI 2.0 gelegt. Es liegt also in der Verantwortung des Bundesgesundheitsministeriums als Mehrheitsgesellschafter der gematik, diese Transformation sinnvoll auszugestalten.
Drittens: Zum derzeitigen Stand bedeutet Digitalisierung vor allem einen zeitlichen sowie finanziellen Mehraufwand für Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinische Fachangestellte und weiteres Praxispersonal. Viele Zusatzleistungen werden in den ausgehandelten Vergütungsbeträgen nicht ausreichend berücksichtigt. Zugleich steigen die Kosten für dringend benötigte Investitionen in IT- und Datensicherheit. Aus diesem Grund müssen alternative Finanzierungsmodelle für diese und kommende Digitalisierungsaufwendungen geprüft werden. Als Vorlage kann das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) dienen, denn hier wird der Ausbau des Digitalisierungsgrades ganzheitlich vorangetrieben. Und auch die schnelle und solide Implementierung der COVID-19-Zertifikate in Arztpraxen kann als Blaupause fungieren. Das Projekt zeigt, dass ein direkter Vertragsschluss zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und Softwareanbietern ein effektives Mittel sein kann, um schnell nutzerfreundliche, digitale Lösungen in die Versorgung zu bringen.
Neben der Bewältigung der Pandemie muss sich der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach also auch dringend mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen beschäftigen. Digitale Anwendungen müssen dabei echte Lösungen darstellen, nicht zusätzlichen Sand im Getriebe des Gesundheitssystems. Der Anfang ist getan, nun gilt es, die vorhandenen Tools so einzusetzen, dass sie die medizinische Behandlung unterstützen, nicht belasten. Das Angehen der oben genannten drei Herausforderungen würde einen ersten Schritt in die richtige Richtung bedeuten.