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Der TI-Score der gematik: Transparenzoffensive oder Marketingtool

Im Fokus der Umstellung auf das eRezept sollten die zeitlichen und finanziellen Aufwände in Arztpraxen stehen. Der TI-Score der gematik setzt die falschen Signale.

„Kennen Sie eine Arztpraxis, die schon E-Rezepte ausstellt? Ja, alle beide.“ So beginnt ein in der Apotheke Adhoc erschienener Artikel zum eRezept. Auch wenn die Realität nicht ganz so dramatisch aussieht, steckt in der Replik eine klare Aussage: Das eRezept ist noch nicht ansatzweise in der Versorgung in Deutschland angekommen. Ganz im Gegenteil muss man eher davon sprechen, dass die stufenweise Digitalisierung der elektronischen Verordnung derzeit nicht in der Arztpraxis, sondern ausschließlich auf der politischen Ebene stattfindet – und das auch nur mit Drohkulisse und unter lautem Widerstand.

Das eRezept kommt weder zur Ruhe noch in die Arztpraxen

Der holprige Start ist vor allem dem politisch motivierten Termindruck durch die vergangene Bundestagswahl und der daraus resultierenden überhasteten Fristsetzung geschuldet. Statt eines realistischen Gesamtfahrplans mit ausdifferenzierten Einführungsphasen und einer anwendergerechten Kommunikation wurden viele Digitalisierungsbaustellen gleichzeitig eröffnet – und halbfertig dem neuen Gesundheitsminister übergeben. Der „Stopp“ der verpflichtenden Nutzung des eRezepts war dringend notwendig; jetzt gilt es, die Einführung wieder Stück für Stück in Gang zu bringen. Schuldzuweisungen und Vergleiche helfen in der aktuellen Gemengelage nicht weiter. Stattdessen sollten alle Akteurinnen und Akteure Digitalisierung als einen komplexen Vorgang annehmen, der auf die Zusammenarbeit aller angewiesen ist.

Praxissoftware am Pranger

Dennoch kommt derzeit kaum eine Präsentation zur Digitalisierung des Gesundheitswesens aus, ohne einen Screenshot des aktuellen TI-Scores der gematik zu zeigen. Die gematik hatte diesen im Rahmen ihrer verkündeten „Transparenzoffensive“ veröffentlicht. Über eine Skala von A (= grün) bis E (= rot) soll in leicht verständlicher Darstellung der TI-Reifegrad von Softwarehäusern aufgezeigt werden. Dazu können Hersteller auf freiwilliger Basis zu fünf Punkten Angaben machen, beginnend mit einer erfolgreichen Zertifizierung bis hin zur abgeschlossenen Auslieferung und „Empfehlung“ des eRezept-Moduls gegenüber den Ärztinnen und Ärzten. Ein Hinweis auf die laut TI-Score vermeintlich lückenhafte Situation in der Praxissoftware-Landschaft untermauert somit bunt auf weiß jede Argumentation über den schleppenden Start der elektronischen Verordnung. Implizit wird der Unwillen der Industrie moniert, die Digitalisierung aktiv mitzugestalten.

Die Mär von der technischen Verfügbarkeit

Ein signifikanter Anteil an gelisteten Anbietern hat bis dato allerdings entweder eine schlechte Bewertung erhalten oder schlichtweg noch keine Daten an die gematik übermittelt. Bei einem genaueren Blick in die Tabelle fällt auf, dass zum Beispiel die Praxissoftwarehersteller Duria und medatixx nicht gelistet sind. Dabei touren vor allem zwei öffentlichkeitsaffine Kunden dieser beiden Hersteller bereits seit Monaten mit Erfahrungsberichten und Optimierungshinweisen durch die Medien – natürlich nur möglich durch die Verfügbarkeit des eRezept-Moduls in ihrer Praxissoftware. Allein medatixx beliefert mit seinen sechs Praxissoftwarelösungen über 30% der deutschen Arztpraxen und hat das eRezept sowie die Funktionen für die Einzel-, Stapel- und Komfortsignatur längst ausgeliefert. Über die Einführung des eRezepts beim „Arzt 0" im Februar dieses Jahres gibt es sogar eine veröffentlichte Fotodokumentation.

Rechnerisch und sachlich falsch

Nimmt man lediglich die Marktanteile der beiden größten Hersteller CGM und medatixx zusammen, muss das eRezept beim Großteil der Arztpraxen in der Praxissoftware technisch verfügbar sein. Gleichzeitig bedeutet dies allerdings nicht, dass der Praxisablauf organisatorisch umgestellt ist, das eRezept aktiv verwendet wird und das Praxispersonal sowie Versicherte geschult sind – geschweige denn, dass der Verordnungsprozess über die Apotheke bis zur Patientin oder zum Patienten sichergestellt ist. Der TI-Score kann somit weder eine Aussage über den eRezept-Umsetzungsstand in der Praxissoftware treffen, noch gibt er Auskunft über den Status Quo insgesamt in den Arztpraxen. Gerade letzteres wäre aber der eigentliche Gradmesser, damit die verpflichtende Einführung überhaupt starten kann.

Intransparente Transparenzoffensive

Von der unreflektierten Verwendung des TI-Scores zur Ableitung einer allgemeinen eRezept-Readyness muss man abraten, da bei der Formulierung der Kriterien dringend nachgebessert werden muss. Beispielsweise sind nicht alle Hersteller darauf angewiesen, an der Testphase unter Anleitung der gematik teilzunehmen, da sie selbst seit Langem über etablierte Test-Strukturen verfügen. Die Erfüllung des Anforderungspunkts „System ist zur Testphase angemeldet“ ist ohne Teilnahme am gematik-Test jedoch nicht möglich, was eine Abwertung im TI-Score zur Folge hat. Auch das Kriterium „Hersteller hat Anwender geschult“ zeigt kaum Realitätsbezug, denn viele Hersteller bieten ihren Anwenderinnen und Anwendern zwar umfangreiches Schulungsmaterial und -termine an, deren Nutzung – und damit eine erfolgreich abgeschlossene Schulung – können sie jedoch nicht erzwingen. Letztlich bleibt auch intransparent, welcher Score unter welchen Umständen überhaupt erreicht werden kann. So genügt zur „grünen“ Listung offenbar die Selbstbestätigung von zwei der fünf Anforderungspunkten, die Erläuterung hierzu fehlt jedoch. Für eine echte Transparenzoffensive ist das ungenügend.

Zusammenarbeit statt Fingerpointing

Insgesamt liefert der TI-Score keine echte Transparenz und bleibt als Marketinginstrument der gematik ohne den Kontext des gesamten digitalen Verordnungsprozesses hinter den Erwartungen zurück. Unbestritten ist, dass Arztpraxen zeitliche und finanzielle Aufwände betreiben müssen, um sich organisatorisch sowie technisch auf das eRezept einzustellen, Personal zu schulen und vor allem Patientinnen und Patienten aufzuklären. Damit der Umstieg von analogen hin zu digitalen Verordnungsprozessen gelingt, benötigen wir daher mehr Unterstützung für niedergelassene Ärztinnen, Ärzte und MFAs. Beispielsweise wäre es ein echter Mehrwert, wenn die gematik diese Mittel stärker dafür einsetzt, Patientinnen und Patienten über das eRezept aufzuklären, damit dieser Aufwand nicht noch zusätzlich auf das Praxispersonal zukommt und das eRezept endlich mehr an Popularität gewinnt.

 

Mehr zu den aktuellen Herausforderungen der Digitalisierung gibt es auch im medatixx-Podcast.