Mit schlechter Laune in die Ferien
Kurz vor der politischen und praktischen Sommerpause hat der Unmut über die Art und Weise der Einführung der Digitalisierung in Arztpraxen einen weiteren Höhepunkt erreicht. Zum 30. Juni ist die Übergangsfrist der ersten Stufe der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) ausgelaufen und Arztpraxen müssen seit dem 1. Juli 2022 die eAU verpflichtend nutzen. Parallel dazu ist die neue Diagnosen-Kodierrichtlinie der KBV erstmalig in viele Arztpraxen eingezogen. Meldungen um die Notwendigkeit eines anstehenden kostenintensiven Konnektortauschs sowie die Aussicht auf die bald verpflichtende Nutzung des eRezepts befeuern die wachsende Verärgerung in Arztpraxen, denn zunächst verspricht keine der Neuerungen irgendeinen Nutzen für Ärztinnen, Ärzte oder medizinisches Fachpersonal. Die fehlenden echten Mehrwerte führen zu einer deutlich spürbaren Unzufriedenheit in puncto Digitalisierung.
Keine Macht den Ablenkdiskussionen
Der steigende Unmut in der Ärzteschaft übt zunehmend Druck auf politische Akteurinnen und Akteure aus – seien es die Bundesärztekammer (BÄK), die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) oder das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) mit seiner „Digitalagentur“ gematik. Diese wiederum versuchen, den Druck weiterzugeben und vermeintlich Verantwortliche zu finden. Dabei ist es wohlfeil, die Verantwortung – wieder einmal - den IT-Herstellern zuzuweisen, denn darauf können sich die Interessenvertretungen scheinbar unkompliziert einigen. Das führt zu Stellvertreterdiskussionen: Statt die eigentlichen Herausforderungen fokussiert von allen (Fach-)Seiten zu betrachten und gemeinsam anzugehen, werden politisch leicht verdauliche Parolen gewählt. Forderungen nach „vollständiger Interoperabilität“ oder „Systemwechsel auf einen Klick“ klingen zunächst nach einer schnellen Lösung für ultimative Digitalität. Ein zweiter Blick offenbart allerdings, dass der bekannte Teufel im Detail liegt – und nicht mit einer simplen „alles oder nichts“-Lösung zu beheben ist. Die aktuellen Diskussionen lenken vom eigentlichen Handlungsbedarf ab.
Mehr Kooperation bitte
Möchte man den gordischen eHealth-Knoten lösen, dürfen keine Mühen gescheut werden, um sich fachlich mit den einzelnen Problemfeldern in allen Facetten auseinanderzusetzen. Also auch mit allen Akteurinnen und Akteuren, wie es längst in anderen Branchen gängig ist. Man stelle sich vor, der Bundeswirtschaftsminister versuche die Energiekrise ohne Rücksprache mit Versorgungsunternehmen zu lösen – unmöglich! Im Gesundheitswesen hat sich allerdings seit vielen Jahren in einigen Bereichen und zu einigen Themen eher ein Gegeneinander denn ein Miteinander etabliert; die IT-Hersteller werden auf der Suche nach einem konstruktiven Weg fast schon intuitiv außen vor gelassen. Dabei ist Digitalisierung zu komplex für simple Lösungen: Mit eMP, NFDM, ePA, COVID-19-Zertifikaten, KIM, eAU, eArztbrief, eRezept, TIM und ihren Ausbaustufen werden fast gleichzeitig so viele TI-Anwendungen eingeführt, dass die „Fantastischen Vier“ eine zweite Version ihres „Mit freundlichen Grüßen“-Songs daraus machen könnten. Gerade in einem diversen Markt mit fast hundert Krankenkassen und ebenso vielen Praxissoftwarelösungen müssen daher Dialoge auf Augenhöhe zwischen allen Beteiligten geführt werden. Nur so kann eine praxistaugliche Digitalisierung gelingen, nur so können realistische Zeitpläne und sinnvolle Implementierungsstrategien für die Digitalisierung abgestimmt werden.
Jo, wir schaffen das!
In der aktuellen Gemengelage helfen Schuldzuweisungen und gegenseitige Vorwürfe allerdings nicht weiter. Stattdessen sollten alle Akteurinnen und Akteure Digitalisierung als einen komplexen Vorgang akzeptieren, der auf die Zusammenarbeit aller angewiesen ist – auch, wenn es anstrengender und anspruchsvoller ist: Nur wenn alle Beteiligten ihre Kräfte bündeln und an einem Strang ziehen, kann das Ziel, eine moderne Gesundheitsversorgung sicherzustellen, effektiv erreicht werden.
Damit nutzenstiftende Digitalisierung gelingt, müssen Hersteller sowie Anwenderinnen und Anwender aus den Arztpraxen frühzeitig in Zeitplanung, Konzeption und Umsetzung der Digitalisierungsvorhaben eingebunden werden. So lässt sich die Titelfrage mit dem Motto des aus Kindheitstagen bekannten stets optimistischen Bob des Baumeisters einfach beantworten mit: Jo, wir schaffen das!